Schmelzendes Eis, aufgelöste Landschaften und dazwischen ein Tanz:
deep eye sea von Jasmin İhraç
(Uferstudios, Berlin, 9. April 2024)
von Stefan Hölscher, 11. Juli 2024
Die Arbeit deep eye sea der Berliner Choreografin Jasmin İhraç ist ebenso Tanzsolo wie multimediale Rauminstallation mit zeitlicher Dauer. Sie ist für Bühnenräume geschaffen worden, würde aber auch in Museums- und Ausstellungsräumen gezeigt werden können. Auf eine die Bühnenrückwand einnehmende Leinwand werden Videoaufnahmen des arktischen Eises projiziert, vor der mehrere, zunächst noch von Tüchern verdeckte, die Bühne in einen Flickenteppich verwandelnde, blaue Spiegelfolien platziert sind, die Dimensionen und Koordinaten verschwimmen lassen, wenn sich auf der Leinwand ein blauer Himmel in geschmolzenem Eis spiegelt, das sich dann wiederum auf Teilen des Bühnenbodens spiegelt. Die Bilder zeigen vermittels kontinuierlicher Fahrten, Schwenks und Zooms weit ausgebreitete, in Auflösung begriffene Landschaften. Sie korrespondieren mit dem Bühnenbild vor ihnen, das neben den Spiegelfolien am Boden größtenteils aus großen Tüchern besteht, die von İhraç, die zugleich Autorin und Solo-Performerin ist, im Verlauf des Stücks unterschiedlich konstelliert und als textiles Territorium transformiert werden.
Mal werden einzelne Textilien wie die Eismassen hinter ihnen aufgetürmt oder dezent gefaltet, mal werden sie zur Bettdecke oder zum Schleier. Dann werden sie, wie von unsichtbaren Kräften bewegt, an Fäden in Richtung der Traversen unter die Bühnendecke hochgezogen, wo sie das Beamerlicht kaleidoskopartig brechen oder ihrerseits zur Projektionsfläche werden. Oder sie bilden einen Gletscher, den İhraç mit ihren Händen umfaltet wie Ton und auf dem das Licht des aus einem Laptop gespeisten Projektors strömendes Wasser erscheinen lässt. Dann wiederum werden sie zu einer Schlinge geformt, an der die Choreografin an prominenter Stelle, fast wie in einer Reminiszenz auf Simone Fortis Slant Board (1961), kurz emporklettert, als wolle sie die sie umgebende Landschaft verlassen, bevor sie wie das arktische Eis, das sich mit der Zeit im Raum ausbreitet, vollends verschwindet. Akustisch untermalt wird die Szenerie von synthetischen Klangteppichen, von durch Schnee stapfenden Stiefeln, dem Geräusch wegbrechender Schollen, Wasser in unterschiedlichen Zuständen, dem Tagebuch einer Reise ins Eis und an mehreren Stellen von Interviews u.a. mit Geophysiker*innen und Ozeanograph*innen, die sich um die Klimakrise und das Wegschmelzen der Polkappen dieses Planeten drehen.
İhraçs vom sogenannten Postmodern Dance und vom Tanztheater geprägtes installatives Solo nähert sich immer wieder mimetisch den als Videobild projizierten oder aus Textilien geformten nicht-menschlichen Körpern auf der Bühne an und steht dabei gleichberechtigt neben ihnen, ohne sie in den Hintergrund abzuschieben und zur Kulisse zu degradieren. Im Gegenteil: In manchen Momenten hat es den Anschein, als würde dieser eine und einzige menschliche Körper auf der Bühne als eines ihrer Elemente in sie eingebettet. İhraç setzt in deep eye sea auf skulpturale Bewegungssequenzen, in denen im Sinne des von André Lepeckis (vom Judson Dance Theater inspirierten) Konzepts des minimal dance nahezu unmerkliche Verschiebungen ihres Körpers stattfinden, als wären die einzelnen Körperteile tektonische Platten, die an der Schwelle zur Wahrnehmung ihre Position und Relation zueinander verändern. Oder sie referiert auf die Performance Art der 1960er und 1970er Jahre, wenn sie am vorderen Bühnenrand sitzend mit einem Hammer kleine Eiswürfel zerschlägt, um damit einen Cocktail zu kühlen, während die Leinwand dahinter ein Mosaik aus Eiskristallen zeigt und eine Stimme aus dem Off von schmelzenden Gletschern und vom zukünftigen Verschwinden der Kontinente im Wasser berichtet. Dann wieder erscheint sie selbst auf der Leinwand, tanzend auf einem Felsen am Wasser oder schwimmend wie Ophelia im Eis. Wiederholt tritt sie daneben aus ihrer Funktion als Tänzerin heraus und wird zur Zuschauerin, wenn sie am Bühnenrand kniet und von dort aus auf die verflüssigten Eismassen und aufgelösten Landschaften hinter ihr blickt.
Ich war im Rahmen der Aufführung vom 9. April 2024 in den Uferstudios im Berliner Wedding Teil des Publikums und konnte so beobachten, inwiefern zusätzlich zur Performance auch der Raum selbst, in dem deep eye sea gezeigt wird, an İhraçs Arbeit mitwirkt. Gezeigt wurde das installative Tanzsolo an diesem Abend in Studio 1, das zur Zeit der Nutzung der heutigen Uferstudios durch die Berliner-Verkehrs-Gesellschaft (BVG) als Werkstatt ein Kühlbecken enthielt und bis heute mit weißen Fließen verkachelt ist, auf denen sich während des gesamten Verlaufs des Stücks Reflektionen nicht nur des Beamerlichts zeigten. Es wäre interessant, deep eye sea auch an anderen Orten mit industrieller Historie wie dem ehemaligen Stadtbad Lichtenberg im Osten Berlins zu sehen. In Räumen, die keine Theaterräume sind, jedoch eine Geschichte manifestieren, in deren Rahmen Menschen ‚Natur‘ zu bezwingen glaubten, während sie durch ihr Handeln eine Epoche einleiteten, die heute von manchen ‚Anthropozän‘ genannt wird und in der sich klimatische Kipppunkte und ökologische Kettenreaktionen menschlichem Zugriff zunehmend entziehen. Was dann am Ende von Menschen bleibt ist ihr Tanz dazwischen.