Auf vergessenen Spuren
Jasmin İhraç über die choreografisch-installative Arbeit "Mj'a sin - Verflechtungen"
erschienen in: tanzraumberlin, 5/2015, http://tanzraumberlin.de/Magazin-Artikel--435-0.html?id=686
Schon 2013 hatte "Mj'a sin" von Jasmin İhraç und Silvina Der-Meguerditchian Premiere – ein Stück über armenische Volkstänze, über Abwesenheit und Verlust. Im Mai wird "Mj'a sin" am Ballhaus Naunynstraße noch einmal wiederaufgenommen. Auf einige Fragen von tanzraumberlin zum Rechercheprozess, zum Erlernen von armenischen Volkstänzen in der Diaspora und zum Gedenken an den Genozid an den Armeniern antwortete die Choreografin und Tänzerin Jasmin İhraç per E-Mail. Interview: Elena Philipp
An die Aghet, den Völkermord an den Armeniern, wird in diesem Jahr zum 100. Mal erinnert. Sie haben sich bereits 2011 auf die Suche nach Ihrer deutsch-türkisch-armenischen Geschichte begeben. Was wollten Sie herausfinden – und was haben Sie gefunden?
Ich habe mich 2011 mit meinem Vater auf die Spuren der Geschichte meines Großvaters begeben. Diese Reise hatte bis heute verschiedene Stationen, vom Dorf, in dem meine Großeltern aufwuchsen in der Türkei, nach Istanbul, Beirut, London, Paris und Berlin. Es hat sich stetig verändert was ich suchte und demnach auch was ich fand. Mir ging es zunächst darum herauszufinden, worüber in unserer eigenen Familie nicht gesprochen wurde, wie die Menschen nach dem, was 1915 passiert war, weitergelebt haben. Welche Überlebensstrategien hat es in meiner eigenen Familie gegeben und unter welchen Umständen hat mein Großvater gelebt und überlebt?
Meine Perspektive wechselt oft zwischen dem Interesse an meiner eigenen Geschichte und einem eher soziologischen Interesse. Ich führte viele Interviews und filmte die gesamte Reise mit ihren unterschiedlichen Orten und Stationen. Herausgefunden habe ich auch, wie verschiedenen der Umgang mit den Geschehnissen ist, und vor allem auch, welche Rolle das Schweigen dabei spielt. "Zor günleri unutalım, güzelleri hatırlayalım" (Lasst uns die schweren Tage vergessen und an die schönen denken") war ein Satz der in den vielen Gesprächen, die ich führte, auftauchte. Viele wollten ihre Erlebnisse nicht an die folgenden Generationen weitergeben. Passiert ist aber das Gegenteil, genau in der dritten und vierten, also in meiner Generation, beschäftigen sich mehr und mehr Leute mit der Geschichte. Das Unwissen, der Bruch, das Ahnen, ist auch das, was mich angetrieben hat. Irgendwann wollte ich auch mehr über die armenische Sprache, Musik, den Tanz wissen.
Das Stück "Mj’ a sin" ist eine Kooperation mit der armenisch-argentinischen bildenden Künstlerin Silvina Der-Meguerditchian. Wie haben sie gearbeitet?
Silvina arbeitet mit Film, Installationen und Objekten. Sie setzt sich seit langem mit dem Konstrukt einer armenischen Identität in der Diaspora auseinander. Anders als ich ist Silvina mit der armenischen Kultur in der Diaspora von Buenos Aires aufgewachsen. Uns war es wichtig, gerade diesen beiden verschiedenen Blickwinkeln und Perspektiven einen Raum zu geben. Wir haben uns in der Arbeitsphase im Hauptanteil mit Volkstänzen, aber auch mit Symbolen, Fragmenten und Elementen aus der armenischen Kultur auseinandergesetzt und untersucht, was diese für uns jeweils bedeuten und wie wir sie mit unseren verschiedenen künstlerischen Sprachen und Ansätzen und aus unterschiedlichen Blickwinkeln verstehen können. Wir haben dann getrennt voneinander gearbeitet und schlussendlich für "Mj’ a sin" zwei verschiedene Räume entworfen, in denen jede Perspektive für sich stehen kann, wie zwei Vorschläge, die sich an einigen Punkten treffen, da sie mit den gleichen Elementen spielen.
Sie haben für Ihr Stück "Mj’a sin – Verflechtungen" in der Türkei, in Beirut und London auch nach traditionellen Volkstänze gesucht. Welches Material haben Sie gefunden, wer hat es Ihnen anvertraut?
Die Volkstänze spielen im Stück eine zentrale Rolle. Es ging darum, diese Tänze in einen neuen, zeitgenössischen Kontext zu setzen. Was bedeutet es, wenn wir sie heute und auch noch auf der Bühne tanzen? Die Idee, mich mit armenischem Volkstanz zu beschäftigen, kam mir in Beirut, als mir
Nigol Bezjian, ein syrischer-armenischer Regisseur, das armenische Viertel Bourj Hammoud zeigte und ich einen ersten Einblick ins (kulturelle) Leben in der Diaspora gewinnen konnte. Die Tänze erschienen mir da wie ein Link, der die Diaspora zusammenhält, aber auch wie etwas, an das ich mit meiner eigenen künstlerischen Sprache anknüpfen konnte.
Nigol vermittelte mich an Shakeh Tchilingirian Major, eine armenische Volkstanzlehrerin aus dem Iran, die in London lebt. Dorthin fuhr ich für drei Tage und lernte im Schnelldurchlauf armenische Tänze oder zumindest einige Grundschritte. Dabei gibt es die Kreistänze – die sogenannten ethnografischen Tänze – und die lyrischen Tänze. In gewisser Weise hatte es etwas fast schon Absurdes, Volks- also Gruppentänze zu zweit zu tanzen. Es fehlte eine Gemeinschaft, um die es ja gerade dabei geht. In gewisser Weise entsprach diese "abwesende Community" auch meiner eigen Realität und meinem Verhältnis zur armenischen Kultur.
Bei den lyrischen Tänzen war dies anders. Das sind oft Solotänze, für die Bühne entworfen, die viel Ornamentales vom Ballett haben und bei denen oft Tiere dargestellt werden.
Wie haben Sie die Volkstänze für "Mj’a sin" bearbeitet?
In der Vorbereitungsphase für "Mj’a sin" gingen wir mit den beiden Performerinnen Tümay Kılınçel und Julia Schunevitsch (im aktuellen Stück vertreten durch Raisa Kröger) in einen Kurdischen Verein, unter anderem, um ein Gefühl für das Tanzen in einer großen Gruppe zu bekommen. Eine aktive armenische Volkstanzgruppe konnte ich in Berlin nicht finden. Kurdische, türkische, armenische oder griechische Volkstänze sind sich sehr ähnlich. Zusätzlich hatte ich ein von Shakeh publiziertes Lehrheft, in dem die wichtigsten Tänze mit Schritt- und Zählangaben und weiteren Hintergrundinformationen notiert sind. Auch damit arbeiteten wir. Weiterhin war Youtube eine wichtige Quelle. Mit Silvina tauschten wir uns viel über die im Netz kursierenden Videos von Hochzeiten, auf öffentlichen Plätzen oder aber auch Tutorials zu armenischen Volkstänzen aus.
Mir ging es schließlich darum, verschiedene Aspekte dieser Tänze herauszufiltern. So wie ich sie kennengelernt hatte, können sie sehr formal, fast schon militärisch sein, wenn sie auf der Bühne gezeigt werden – nicht zuletzt gibt es dann eine enge Verknüpfung mit nationalstaatlichen Interessen der Repräsentation. Sie sind aber auch sehr spielerisch und frei, wenn sie in großen Gruppen bei Hochzeiten oder anderen sozialen Anlässen getanzt werden. Immer reflektieren diese Tänze auch die Rolle jeder/s Einzelnen mit: Wo liegt ein Freiheitsmoment, wenn alle das Gleiche tun? Wann stützt die Community, wann beengt sie? Gibt es Momente und Situationen, in denen jeder/r einzelne mit seinen/ihren Bewegungen im Mittelpunkt steht? Es ging mir darum, Situationen zu schaffen, in denen diese verschiedenen Aspekte sichtbar werden können. Beschäftigt haben wir uns dann mit einer Auswahl an (Kreis- und lyrischen) Tänzen und gefragt, was hinter jedem Tanz liegt; was er ursprünglich bedeutet und uns vor unserem eigenen Hintergrund erzählen kann.
Die Tatsache, dass armenische Tänze immer noch getanzt werden, hat im Angesicht von 1915 etwas Widerständiges. Sie sind ein Zeichen dafür, dass das kulturelle Leben in der Diaspora weiterlebt. Gleichzeitig kann das Konservieren und Festhalten an der Vergangenheit aber auch etwas Einschränkendes haben. Auf meiner Reise hatte ich gehört und erfahren, dass ein Umdeuten von dem, was zuvor war, auch ein Freiheitsmoment bergen kann. Zwei wichtige Aspekte, mit denen wir arbeiteten, waren demzufolge Sehnsucht (nach der Community, nach dem/der Anderen) und Widerstand. "Mj’a sin" erzählt aber auch davon, dass Volkstanz nicht bedeutet, an einer Identität festzuhalten. Wir spielen mit den Möglichkeiten, an andere Formen, Muster und Musiken anzuknüpfen, Fragmente der traditionelle Schritte zu zitieren und mit Neuem in Verbindung zu setzen.
Und eine ganz aktuelle Frage: Wie haben Sie als deutsch-türkisch-armenische Choreografin den Jahrestag des Völkermords erlebt?
Ich selbst war zum 24. April in Istanbul, an dem Tag, als 1915 die ersten armenischen Intellektuellen deportiert wurden, was den Beginn des Völkermords markiert. In der Nähe des Taksim Platzes gab es ein Gedenken mit einigen Reden, an dem circa 3.000 Menschen teilnahmen. Zwei Tage zuvor hatte es ein großes Gedenkkonzert gegeben, bei dem sehr viele Leute aus der Diaspora anwesend waren. Armenische und türkische KünstlerInnen waren vertreten und symbolisch war es ein wichtiger Schritt, auch wenn offiziell die Benennung Völkermord immer noch nicht auftauchen darf. Bis heute wird der Genozid an den ArmenierInnen in der Türkei tabuisiert und ist in ein komplexes Netz aus Schweigen, Angst, Vorurteilen und (staatlichem) Verleugnen verstrickt. Dennoch kann man nicht sagen, dass es keine Aussicht auf Änderung gibt – immer mehr Geschichten gerade aus der dritten Generation werden hörbar. Gleichzeitig setzen die großen Demonstrationen, die seit der Ermordung des türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink jährlich stattfinden, ein Zeichen der Solidarität und Hoffnung.
Ich denke es ist wichtig zu sehen, dass durch die Geschehnisse um 1915 nicht nur unzählige Leben ausgelöscht wurden, sondern auch das kulturelle armenisch-türkische Zusammenleben zu einem großen Teil sein Ende fand. Um es an meinem Beispiel zu sagen: Ich werde nie wissen können, was es bedeutet, mit der armenischen Sprache oder den Tänzen aufzuwachsen. Dennoch will ich die Situationen, Begegnungen, Gespräche, all das, was ich auf meiner Reise erfahren und lernen konnte, nicht missen. In diesem Sinne hat 1915 sein Ziel verfehlt. Ich glaube auch, dass neben der staatlichen Anerkennung erst das wirkliche Aufeinandertreffen von Perspektiven und Geschichten, ganz einfach wenn Leute sich treffen, etwas bewegen und ändern kann.