Keep it real: Voguing und das Archiv


Jasmin İhraç

Text erschienen im e-Journal MAP - Media | Archive | Performance, 2013

Als im August 2012 der erste Voguing Ball in Berlin stattfand, sprachen die begleitenden Presseartikel von einem beispiellosen Ereignis und einem neuen Aufschwung in der Szene. In der Tat hatte es in Deutschland in der Vergangenheit keine vergleichbare Veranstaltung gegeben. Vertreten waren Pionier_innen aus New York, die im Vorfeld Workshops anboten und als Jury die international angereisten Teilnehmer_innen bewerteten. Das Phänomen Voguing scheint nicht nur den Sprung aus den USA nach Europa gemacht zu haben. In der spärlichen Literatur, die existiert, wird gegenwärtig von einem Voguing Revival seit den 90er-Jahren gesprochen (Bressin / Patinier 2012). Auch im Bereich des zeitgenössischen Tanzes wird derzeit auf Voguing Bezug genommen.

Dem Stück (M)IMOSA, welches ebenfalls 2012 während des Berliner Festivals Tanz im August im Hau 2 gezeigt wurde, liegt folgende Ausgangsfrage zugrunde: „What would have happened in 1963 if someone from the ball scene in Harlem had come downtown to perform alongside the early postmoderns at Judson Church?”[1] Eine spannende Frage, an die sich eine weiterführende anknüpfen lässt: Warum sind sich beide Bewegungen nie begegnet, obwohl sie sich nahezu zeitgleich im damaligen New York entwickelten? Liegt dies nur daran, dass die Postmodernists, wie Rainers No-Manifesto belegt, Glamour und Spektakel ablehnten, die Voguer_innen aber gerade den Glamour der Modewelt zu ihrem Angelpunkt machten?[2] Oder ist es logische Konsequenz der Tatsache, dass die Referenzpunkte unterschiedlich waren und sich Voguing, obwohl es sich als eigene Tanzsprache entwickelte, gar nicht mit der Bühnen- und Performanceszene, sondern mit den sozialen Missständen von Rassismus und Homophobie auseinandersetzte, Tatsachen, die die Postmodernen wiederum völlig ausblendeten?
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